Buchkritik: Wenn Tulpen, Tweets und Tuberkulose viral gehen

Dirk Engel liest: „Das Gesetz der Ansteckung“ von Adam Kucharski

Einst gab es dieses verheißungsvolle Modewort in der Werbebranche: virales Marketing. Der Begriff wird im Angesicht der realen Gefahr des Corona-Virus‘ heute nur noch selten gebraucht, doch das Phänomen, das er beschreibt, ist aktueller denn je: Markenbotschaften oder Produktempfehlungen verbreiten sich mitunter wie ein Virus, werden von einer Person zur nächsten weitergetragen, wirken „ansteckend“. Solche Phänomene der sozialen Ansteckung gab es schon lange vor dem Internet – man denke nur an Gerüchte, Trends oder die Verbreitung von Gassenhauern.

Aber in der digitalen Welt ist eine „virale“ Kommunikation längst Alltag. Es werden nicht nur Links, Memes, Tweets oder TikTok-Videos geteilt, sondern ebenso Fake News, Schmähungen und Verschwörungstheorien. Genau der richtige Zeitpunkt also, um einen näheren Blick auf die Mechaniken dieses Phänomens zu werfen. Das passende Buch dazu ist „Das Gesetz der Ansteckung“ von Adam Kucharski. Der Autor ist Wissenschaftler, der sich mit den Ausbrüchen von Infektionskrankheiten beschäftigt, und er gibt einen verständlichen und lesenswerten Überblick über sein Forschungsgebiet. Keine Angst, hier spricht nicht noch ein Virologe über Krankheiten; vielmehr zeigt Kucharski die Herausforderungen und Methoden bei der Untersuchung von Epidemien. Relevante Begriffe (wie der mittlerweile allseits bekannte R-Wert) werden nachvollziehbar und ohne Mathematik erklärt.

Doch die Aufmerksamkeit des Autors geht weit über das medizinische Feld hinaus. Ähnliche Modelle, die die Ausbreitung von Zika oder HIV erklären, können auch bei anderen Ereignissen angewandt werden. Von der Tulpen-Blase bis zur Tuberkulose, von Kriminalität bis zu Computerviren – die Beispiele sind vielfältig. Einige davon haben konkret mit Marketing und Werbung zu tun, doch handelt es sich bei dem Buch natürlich nicht um einen Management-Ratgeber. Wer es liest, versteht sicherlich besser, was während der Covid-Pandemie passierte. Gleichzeitig wird sein Blick geschärft für die Viralität von Botschaften, Nachrichten und Produkten. Das Buch, das in Deutschland bereits kurz nach dem Corona-Ausbruch erschienen ist (und deshalb die Erfahrungen der letzten Monate nicht berücksichtigen konnte), ist ohne Zweifel eine spannende Lektüre. Die vorhandenen Anknüpfungspunkte zum Marketing lohnen sich weitergedacht zu werden.

Dirk Engel