Heft 5

Melanie Schneider/Klaus Schönbach/Holli A. Semetko

Kanzlerkandidaten in den Fernsehnachrichten und in der Wählermeinung

Befunde zum Bundestagswahlkampf 1998 und früheren Wahlkämpfen

Wie in den beiden Bundestagswahlkämpfen zuvor hatte Regierungschef Helmut Kohl auch 1998 in den Fernsehnachrichten von ARD, ZDF, RTL und SAT.1 – die hier als grober Indikator für die gesamte Medienberichterstattung dienen – einen Präsenzbonus gegenüber seinem Herausforderer. Zwar nahm im Vergleich zu 1990 und 1994 auch die Sichtbarkeit des SPD-Kandidaten zu, Kohls Abstand zum Herausforderer hatte sich aber 1998 wieder vergrößert. Allerdings konnte Gerhard Schröder als einziger der drei SPD-Kanzlerkandidaten der 90er Jahre einen „Redebonus“ für sich verbuchen, das heißt, er kam während des Wahlkampfs in Zitaten durchschnittlich 11 Sekunden länger zu Wort als der Regierungschef. Außerdem erwies sich Schröders optisches Erscheinungsbild als freundlicher als das von Kohl, denn er präsentierte sich in den Fernsehnachrichten als stets freundlicher, sympathischer Herausforderer eines altegedienten, häufig mürrisch wirkenden amtierenden Kanzlers. Davon unabhängig standen in den Nachrichten 1998 beide Kandidaten etwa gleich häufig in der Kritik.

Im Vergleich der Kandidatenpräsenz in den Nachrichten mit den Wahlbewertungen aus Umfragen lassen sich Parallelen aufzeigen, so daß Einflüsse auf die Wählermeinung stattgefunden haben könnten. Allerdings verliefen die Entwicklungen in den Nachrichten 1998 beim Herausforderer immer ungefähr eine Woche voraus, während sie beim Amtsinhaber zeitgleich verliefen. Möglicherweise waren die Wähler mit Schröder noch nicht so vertraut, weshalb es etwas länger dauerte, neue Informationen über ihn zu verarbeiten.

Während im anglo-amerikanischen Journalismus in der heißen Phase des Wahlkampfs eine quantitative Ausgewogenheit zwischen den Kandidaten hergestellt wird, orientieren sich die meisten deutschen Journalisten an professionellen Nachrichtenkriterien, wie Prominenz, Macht oder Aktion. Unter den hier untersuchten Nachrichtensendungen stellte lediglich RTL eine formale Ausgewogenheit zwischen den Kandidaten im Bundestagswahlkampf 1998 her, wobei erst zukünftige Wahlkämpfe zeigen werden, ob man sich hier der anglo-amerikanischen Nachrichtenmoral verschrieben hat.

MP 5/1999, S. 262-269



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