Buchkritik: Zum Sherlock Holmes der Statistik werden

Dirk Engel liest: „The Data Detective“ von Tim Harford

Wir alle haben jeden Tag mit Statistiken zu tun. Im Marketing werden wir regelrecht mit Studien und Marktforschungsdaten bombardiert. In den Medien finden wir Unmengen von Infografiken, Daten und Fakten zu den unterschiedlichsten Themen – ganz zu schweigen von den täglichen Corona-Zahlen. Zu keiner Zeit waren so viele Daten verfügbar wie heute. Doch gleichzeitig hat man oft den Eindruck, dass diese Datenflut immer oberflächlicher verarbeitet wird. Journalisten, PR-Leute oder politische Aktivisten, immer auf der Suche nach der besten Schlagzeile, überspitzen oder verzerren Daten, manchmal aus Versehen oder Zeitmangel, manchmal auch mit voller Absicht. Hier ist der kritische Blick jeder Leserin und jedes Lesers gefragt.

Das Rüstzeug für einen souveränen Umgang mit Zahlen und Grafiken liefert der Ökonom und Wissenschaftsjournalist Tim Harford. Für die britische Zeitung „The Economist” schreibt er seit Jahren eine populäre Kolumne, bei der er aktuelle Statistiken aufs Korn nimmt. Seine Erfahrungen dabei hat er jetzt in einem sehr klugen Buch zusammengefasst: „The Data Detective“. Hier gibt es, im Gegensatz zu seiner Kolumne (deren Texte ebenfalls in Buchform vorliegen), keine Revue von Beispielen aus der Kategorie „So lügt man mit Statistik“; es ist vielmehr eine ehrliche und selbstkritische Reflexion darüber, wie man Studienergebnisse und Zahlen vernünftig interpretieren kann. Der Daten-Detektiv ist kein Statistik-Experte oder Mathematiker, sondern jemand, der einfach den Dingen auf den Grund gehen will – so wie Sherlock Holmes, der Vater aller Detektive und bestechende Meister der logischen Schlussfolgerungen.

In Harfords Buch wird die Art und Weise, wie wir Schlüsse ziehen, unter die Lupe genommen. Statistisches Fachwissen wird nur am Rande erwähnt. Der Autor plädiert eher für den gesunden Menschenverstand, unterstützt durch Erkenntnisse aus der Psychologie. Denn wir alle neigen manchmal zu Denkfehlern und Schnellschüssen, die auf psychologischen Mechanismen beruhen. Wenn wir diese kennen und erkennen, können wir sie auch vermeiden. Zehn einfache Regeln hat Harford aufgestellt, die helfen sollen, den Sinn zwischen all den Zahlen zu finden. Manchmal ist es etwa besser, statt auf kurzfristige Veränderungen auf langfristige Trends zu achten. Manchmal muss man genau nachfragen, was eigentlich gemessen wurde. Immer ist es gut, seine eigenen Gefühle und Vorurteile beiseite zu schieben und mit offenem Blick auf die Daten zu schauen.

Trotz des Versprechens von “zehn einfachen Regeln” macht es sich der Autor aber nicht leicht. Das Buch zeigt keine Schwarzweiß-Malerei, sondern ist in einer sehr vorsichtigen und nachdenklichen Tonlage verfasst. Eher nebenbei begegnen dem Leser statistische Fachbegriffe und wissenschaftliche Debatten (etwa die „Replikations-Krise“, bei der es darum geht, dass Wiederholungen berühmter Experimente nicht die gleichen Ergebnisse lieferten). Das Buch ist enorm lehrreich, ohne ein Lehrbuch zu sein. Gerade in der Werbebranche, in der Zahlen und Studien so wichtig sind, sollte jeder mit einem geschärften Blick Tabellen und Grafiken lesen. Die Gedanken und Tipps von Tim Harford helfen dabei. Dirk Engel