Heft 10

Bernd Holznagel

Gratiszeitungen - ein Verstoß gegen die Pressefreiheit?

Befunde eines Rechtsgutachtens

Dass es in Deutschland derzeit keine Gratiszeitungen gibt, die den Menschen vorwiegend auf dem Weg zur Arbeit angeboten werden, ist vor allem auf die konsequente Abwehr der etablierten Zeitungsverlage zurückzuführen, die dagegen auch juristisch vorgingen. Mittlerweile spielen dabei verfassungsrechtliche Argumente eine immer größere Rolle. Die Verleger entgeltfinanzierter Zeitungen sind der Auffassung, dass durch die Gratispresse ihr Grundrecht auf Pressefreiheit im Sinne des Artikels 5 Absatz 1 Satz 2 GG verletzt werde. Mit diesem zentralen Einwand setzt sich der Beitrag auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr eröffnet Gratispresse die Chance, den Wettbewerb und die Meinungsvielfalt auf den Pressemärkten zu verbessern.

Gratisblättern kann der Schutz des Artikels 5 Absatz 1 Satz 2 GG nicht verwehrt werden. Er steht Sensationsblättern ebenso zu wie seriösen politischen Zeitungen und umfasst selbst den Anzeigenteil. Da die Kostenlosigkeit Teil des verlegerischen Konzeptes der Gratispresse ist, steht auch der Gratisvertrieb unter dem Schutz dieses Artikels.

Da sich die grundgesetzliche Garantie nicht nur auf die individuelle Freiheit bezieht, sondern auch eine institutionelle Garantie ist, die den Staat beispielsweise zu Maßnahmen gegen die Herausbildung von Meinungs- und Pressemonopolen verpflichtet, ist die Frage von Belang, ob Gratiszeitungen in wirtschaftlicher Hinsicht eine Existenzbedrohung bezahlter Zeitungen darstellen. Mögliche Erlöseinbußen bezahlter Zeitungen wären aber verfassungsrechtlich nur relevant, wenn die Presse als Ganzes betroffen wäre, garantiert doch Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 GG nur das Bestehen einer freien, zur Meinungsbildung beitragenden Presse im Ganzen. Eine Garantie für den (ökonomischen) Bestand eines bestimmten Druckerzeugnisses gibt es nicht. Auch ist nach den bisherigen Erkenntnissen über die Effekte von Gratisblättern nicht erkenntlich, dass, wie von den Gegnern vorgebracht, die herkömmliche Tagespresse in publizistischer Hinsicht gefährdet würde. Die etablierten Zeitungsverlage befürchten Qualitätseinbußen, wenn sie wegen dieser kostenlosen Konkurrenten aufgrund von Leserverlusten und Anzeigenrückgängen zu Kosteneinsparungen gezwungen wären. Schließlich ist auch die vorgebrachte These nicht haltbar, Gratiszeitungen gefährdeten das Presse-Grosso, das eine neutrale, chancengleiche und flächendeckende Verbreitung von Presseprodukten sicherstellt.

Auch weitere Argumente der Gratispresse-Gegner können nicht überzeugen: Die kostenlosen Zeitungen erbrächten einen geringeren Beitrag zur Meinungsbildung, die nicht notwendige Kaufentscheidung senke möglicherweise die Lese- und Qualitätserwartungen der Nutzer, und die Werbewirtschaft habe wegen der alleinigen Werbefinanzierung unangemessene Einflussmöglichkeiten. Auch das Argument, die entgeltfinanzierte Tagespresse sei funktionell mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vergleichbar und ihr gebühre daher eine Vorrangstellung, trägt wegen der unterschiedlichen Ausgangslage von Presse und Rundfunk nicht.

MP 10/2006, S. 529-537



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