Gratiszeitungen und etablierte Zeitungsverlage
(Mögliche) Effekte eines neuen Pressetyps
Nach dem Marktzutritt von Gratiszeitungen, die es mittlerweile in vielen europäischen Ländern (außer in Deutschland) und beispielsweise auch in den USA gibt, haben die etablierten Zeitungsverlage verschiedene Reaktionsmuster gezeigt. Sie reichen von Verhinderungsstrategien (z.B. juristische Auseinandersetzungen) über die Aufnahme des Wettbewerbs durch Betonung eigener Stärken bis zur Herausgabe eigener Gratistitel als Gegenstrategie. Welche Folgen haben Gratiszeitungen für die entgeltfinanzierte Tagespresse? Gibt es Substitutionseffekte? Zu diesen Fragen werden Leser- und Werbemarkt getrennt analysiert.
Im Lesermarkt sind seit Jahren rückläufige Auflagen der Tagespresse zu beobachten. Ihre Reichweite ist vor allem in den jüngeren Altersgruppen stetig gesunken. Demgegenüber zeigen die bisherigen Erfahrungen mit der Gratispresse im Ausland, dass diese jüngere Leser besser erreicht. Ein Rückblick auf den gescheiterten Versuch des norwegischen Schibstedt-Konzerns, zwischen 1999 und 2001 in Köln die kostenlose Pendlerzeitung 20 Minuten zu etablieren, zeigt, dass Auflagenrückgänge der dortigen etablierten Tageszeitungen kaum auf das Gratisblatt zurückgeführt werden können. Analysen ausländischer Zeitungsmärkte weisen ebenfalls auf eher geringe Auflagenverluste durch kostenlose Zeitungen hin, die Rückgänge sind zum größeren Teil anderen Faktoren zuzuschreiben. Ob Leser von Gratiszeitungen auch weiterhin ihre bezahlte Zeitung lesen, wird unterschiedlich beantwortet: In europäischen Märkten wurden relativ wenige Doppelleser registriert, während in den USA viele Menschen kostenlose und bezahlte Zeitungen nebeneinander nutzen. Deutlich wird aber, dass Gratiszeitungen neue Leserschaften erschließen können, die bisher keine Tageszeitung lasen.
Derzeit finanzieren sich die deutschen Tageszeitungen zu etwas mehr als der Hälfte aus Werbung. Nehmen die ausschließlich werbefinanzierten Gratisblätter ihnen hier wichtige Marktanteile weg, was wegen der in der Folge nötigen Kosteneinsparungen auch eine qualitative Abwärtsspirale in Gang setzen könnte? Die möglichen Werbemarkteffekte lassen sich kaum abschließend beantworten. Feststellbar ist jedoch, dass sich die Akquisitionsfelder von Tages- und Gratiszeitungen nicht vollständig überschneiden und die kostenlosen Blätter aufgrund ihrer anderen Zielgruppenansprache auch andere Werbefelder erschließen können. Über die Steigerung der Gesamtauflage der Zeitungen durch kostenlose Angebote und die Ansprache jüngerer Menschen können jedoch positive Effekte für den Werbeträger Zeitung entstehen, indem das Medium im intermedialen Vergleich gestärkt wird.
Während die Effekte der Gratispresse noch nicht abschließend bewertet werden können, zeigen sich erste Differenzierungen dieses Pressetyps, zum Beispiel in Form von kostenlosen Wirtschaftstiteln oder hinsichtlich der Vertriebsform (Verteilung an alle Haushalte statt im Berufsverkehr). Zumindest auf einigen Auslandsmärkten sind mittlerweile auch deutsche Verlage in diesem Segment aktiv geworden.
MP 10/2006, S. 521-528
- Download Volltext 257 KB, pdf
Zurück zur Übersicht