Paradigmenwechsel in der europäischen Fusionskontrolle?
Steigende Medienkonzentration in Deutschland und Europa: Gefahr für den Pluralismus
Der Beitrag zeichnet die Entscheidungen der EG-Kommission zu wichtigen Fusionsvorhaben im Medienbereich in den 90er Jahren nach. So wurde 1994 das Vorhaben eines Gemeinschaftsunter- nehmens MSG der Konzerne Bertelsmann, Kirch und Telekom untersagt, weil die EG-Kommission eine Marktbeherrschung auf drei relevanten Märkten befürchtete; von den Parteien angebotene Zusagen (z.B. eine allgemein zugängliche Schnittstelle einzuführen) wurden als unzureichend bewertet. Auf der gleichen Linie lag die EG-Kommission auch 1998 bei den Zusammen- schlussvorhaben von Bertelsmann/Kirch/Premiere sowie Deutsche Telekom/Beta Research. Zwar seien die beiden Projekte jeweils selbständige Verfahren, jedoch bezog die EG-Kommission bei der Prüfung des einen auch etwaige Auswirkungen des anderen Vorhabens mit ein. Zugeständnisse der beteiligten Unternehmen wurden wiederum als unzureichend verworfen.
Vor allem die jüngeren Entscheidungen legen jedoch die Vermutung nahe, dass sich in der europäischen Fusionskontrolle ein Paradigmenwechsel vollzogen hat. Aktuelle Projekte wurden teilweise schnell genehmigt, so im März 2000 die Beteiligung von Murdoch bzw. BSkyB an Premiere noch in der Vorprüfungsphase. Das Fusionsvorhaben von AOL und Time Warner, also des weltweit größten Internetanbieters mit dem weltgrößten "klassischen" Medienkonzern und führenden Musikvertreiber, gegen das die US-amerikanische Aufsichtsbehörde FCC nach wie vor Bedenken hat, gab die EG-Kommission im Rahmen ihrer Zuständigkeit im Oktober 2000 gegen Auflagen frei. Hierzu zählte u.a. der Rückzug aus dem parallel geprüften Fusionsvorhaben zwischen Time Warner und dem britischen Musikanbieter EMI.
Ganz ohne Auflagen wurde der Zusammenschluss von CLT-UFA (Bertelsmann, Audiofina) und Pearson zur RTL-Group genehmigt. Gestattet wurden auch die Pläne von Vivendi/Seagram sowie das gemeinsame Engagement von Murdochs News Corporation und Telecom Italia bei der Pay-TV-Plattform Stream. Solche Ver- schmelzungen von Netz- und Inhaltsebene bergen prinzipiell Gefahren für die Offenheit der Märkte.
Gemeinsam ist den jüngeren Entscheidungen der EG- Kommission, dass verhaltensbestimmte - nicht marktstrukturelle - Zusagen der fusionswilligen Unternehmen immer öfter als ausreichend akzeptiert werden, ebenso Zusagen, die ohnehin bereits aufgrund wettbewerblicher Vorschriften zu beachten wären. Hier scheinen sich im Vergleich zu den früheren Entscheidungen die Maßstäbe geändert zu haben. Die aktuellen Fälle zeigen außerdem, so der Befund der Autorin, dass das derzeitige wettbewerbsrechtliche Instrumentarium nicht ausreicht, um vor dem Hintergrund globaler Strategien insbesondere vertikale Integrationen, die besonders große Gefahren für die Offenheit der Märkte und damit letztlich auch für den Meinungspluralismus bergen, in den Griff zu bekommen.
MP 11/2000, S. 482-490
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